Photo: Anna Maria Boll 2014, 56-os emlékmű (56er-Denkmal) oder: Denkmal an den Volksaufstand, in der Nähe des Stadtwäldchens, Budapest von 2006.
Casper David Friedrich, Das Eismeer, 1823/24, JPG von http://www.wikipedia.de
Als ich in Budapest aus dem Stadtwäldchen in Richtung Innenstadt schlenderte gelangte ich zum Denkmal an den Volksaufstand von 1956. Sofort sah ich das Bild „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich vor mir.
Das Gemälde ist geprägt von scharfen Linien und Dreiecksformen. Die sich überlappenden, strengen Linien definieren die nach oben hin spitzer werdenden Formen in Friedrichs Gemälde. Durch das prägnant ausgearbeitete Licht- und Schattenspiel wirken die Formen im Gemälde sehr skulptural. Die Eisschollen in der Bildmitte brechen aus der geschlossenen Eisdecke heraus. Die sich überschneidenden Linien im Vordegrund bilden hierfür die Basis. Die Eisschollen sind hier zum einen schräg zum Betrachter hin ausgerichtet, zum anderen treppenartig angelegt und somit so positioniert, dass der Betrachter ins Geschehen hineingezogen wird. Mit der Steigerung der Neigung der einzelnen Eisschollen und der Ausrichtung der Linien auf einen Punkt links oben außerhalb des Bildes hin, löst das Motiv bei mir ein Gefühl von einem drängenden Nach-oben-Streben aus. Diese Intensivität erinnert an eine stark brennende Sehnsucht. Wie von einem Magneten angezogen, richten sich die Formen nach diesem Punkt und dieser Sehnsucht hin aus. Das Schiffswrack, das man erst auf den zweiten Blick rechts neben der mittig liegenden Eisscholle erkennt, revidiert dieses Gefühl des Aufstrebens, der tiefen Sehnsucht und Kraft. Irgendetwas ist bereits schief gegangen. Vielleicht wird das Gemälde deshalb von Wissenschaftlern und Hobbykunstinterpreten auch als „gescheiterte Hoffnung“, „Versinnbildlichung der gescheiterten Freiheitskriege“ sowie den „Untergang der Hoffnung der Patrioten“ interpretiert. Ich bin nicht dieser Meinung. Auch wenn das Eis Ausdruck von Festigkeit und Erstarren ist, so scheint mir doch noch etwas Hoffnung und brennende Leidenschaft im Bild vorhanden: Denn sogar das Schiffswrack richtet sich wie magnetisch angezogen zu dem Punkt ausserhalb des Bildes hin aus. Dieser Punkt muss echt stark sein.
Das Denkmal am Stadtwäldchen in Budapest besteht aus Stahlträgern, die im rechten Winkel und aufrecht stehend in den gepflasterten Platz eingelassen sind. Zum spitzen und höchsten Dreieckspunkt hin sind die Stangen immer dichter angeordnet. Der Hell-Dunkel-Kontrast ist zwar durch rostige und glänzende Stahlpfosten vorhanden, aber anders als im Gemälde klar und linear auf den Höhepunkt hin ausgerichtet. Das Denkmal bezieht in besonderer Weise den Stadtraum und den Betrachter in seinen Körper mit ein: Zum einen entsteht durch die Pflasterung ein abgesonderter Raum, zum anderen sind die Stahlträger zur niedrigeren Seite hin unterschiedlich weit auseinander gestellt worden, so dass man hineinlaufen kann und im „Stahlwald“, ähnlich wie im Holocaust-Mahnmal (2006) in Berlin, wandeln kann. Zudem besteht eine Parallele zum Gemälde von Friedrich in der Basis des Objektes: Das Kopfsteinpflaster ist um das Denkmal herum radial und zentrierend auf das Objekt hin ausgelegt worden. Somit entsteht eine Sogwirkung für den Passanten, ähnlich der Einbeziehung des Betrachters bei Friedrich. Ausserdem ist das Kopfsteinpflaster direkt unter dem Denkmal hügelförmig erhöht und die sich überlappenden Steinlagen brechen ähnlich den Eisschollen von Friedrich auf. Doch brechen sie wirklich auf oder steckt das Monument in ihnen fest? Dieser Kampf wird über die Materialität dargestellt; wird der Stein oder der Stahl stärker sein? Die Steine formen einen Basishügel, der unter dem höchsten Punkt des dreieckförmigen Monumentes am höchsten ist. Alle Linien sind auf diesen hohen Punkt aus Stahl hin ausgerichtet, der wiederrum in den Himmel zu deuten scheint. Die prägnanten geraden Linien der gesamten Skultur formen ein dreieckiges Objekt und gleichzeitig einen voluminösen (Stadt-)raum. Dieser inselförmige Stadtraum strebt nach oben hin und ich spürte ein intensives Gefühl von Freiheit und ein Streben nach einem Punkt hin, auf den das Denkmal und alles in dieser Insel hin ausgerichtet ist. Dieser Punkt liegt ausserhalb dieser Stadtinsel. Das Denkmal ist 2006 als Erinnerungsort und -objekt für den gescheiterten ungarischen Aufstand von 1956 gegen die sowjetische Besatzung eingeweiht worden.
Zwischen beiden Kunstwerken besteht also durchaus ein Zusammenhang. Beide werden als Erinnerung an eine gescheiterte Revolution interpretiert. Ich sehe in den, ausserhalb der Werke liegenden, kompositorischen Punkten jedoch viel stärker noch die weiterhin bestehende Sehnsucht nach Freiheit und den unerschütterlichen Willen diese zu erreichen. In beiden Fällen hat die Geschichte auch gezeigt, dass die Demokratie die Freiheit gebracht hat und die Ziele der Revolutionen doch erreicht wurden. In dieser (heutigen) politischen Zeit sollte sich die ungarische Regierung allerdings auf diese Werte und diese Zeit zurückbesinnen.
Noch interessanter als die Interpretation ist allerdings die ähnliche Formgebung und Komposition der beiden Werke und noch viel mehr das Gefühl, dass durch sie in mir ausgelöst wurde. In dem Moment als ich an dem Denkmal in Budapest vorbei kam, wusste ich nichts von den beiden Interpretationsansichten und auch nichts darüber, für was dieses Denkmal steht. Als ich mich dazu entschied, darüber zu schreiben, ebenfalls nicht. Das Gefühl hat mich nicht losgelassen und ich wollte es in Worte fassen, dass zwei so verschieden erscheinende Medien und Kunstwerke das gleiche Gefühl in mir auslösten. Es irritierte mich, dass ich inmitten von Budapest an einem späten Nachmittag plötzlich das Bild von Caspar David Friedrich vor meinem inneren Auge sah.